18.8.2020: Basler Split und Linksläufer-Superbabyzelle

Der Linksläufer im Abendlicht
Foto: Mike Tscharner

Am Abend des 18.8.2020 teilte sich eine Gewitterzelle, welche knapp südwestlich von Basel entstanden ist. Die eine Zelle wich dem mittleren Höhenwind nach rechts, die andere nach links aus. Der Rechtsläufer zerfiel nach 1 3/4 Std., der Linksläufer überlebte länger, ca. 2.5 Stunden. Dieses Verhalten ist unüblich, meistens ist es umgekehrt. Dies ist Grund genug, den Linksläufer genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Zufall wollte es, dass die Zelle ziemlich nahe am Feldberg Radar vorbeizog. Damit kann mit Hilfe der Dopplerwindmessungen des Radars untersucht werden, ob der Aufwind der Zelle rotierte oder nicht. In unserem Vorgängerblog („Ausbruch von Superzellen?“) hatten wir darauf hingewiesen, dass die Umgebungsbedingungen für Rotation bei den Linksläufern in der Regel weniger günstig sind als bei Rechtsläufern.

Die folgende gif-Animation zeigt die Zellteilung und die unterschiedlichen Zugbahnen der beiden Split-Zellen zwischen 1810 und 21 Uhr. Die Wolkentops erreichten ca. eine Höhe von 10 km über Meer, und die Hagelcores (rote Säulen) stiegen auf maximal 6 km. Die Zellen entstanden in einer vom Nordatlantik stammenden, mässig instabilen Luftmasse auf der Rückseite eines abziehenden Höhentroges und erreichten nicht die Ausdehnung und Stärke von hochsommerlichen Gewittertürmen.

Radar-Animation des Basler Splits.

Wir untersuchen im folgenden den Linksläufer um 21 Uhr, der Zeitpunkt, zu welchem die Zelle im Süden des Feldberg Radars vorbeizog. Wir zeigen vier vergrösserte Radarbild-Ausschnitte: die Doppler-Geschwindigkeit auf 2.6 km Höhe über Meer (Elevation 2.5 Grad), ungefiltert und gefiltert, und die Radarreflektivität auf 2.6 km und 5 km Höhe über Meer.

Das untenstehende Bild der Doppler-Geschwindigkeit zeigt einen Vortex moderater Stärke. Im ungefilterten Bild (links) sind eine grössere Zahl von Fehlmessungen erkennbar. Diese sind kleinräumig und sehr variabel. Mit einem Median-Filter kann das Doppler-Bild in der Regel recht gut von Fehlmessungen gesäubert werden. Eine Beurteilung der Wirkung eines Filters von Auge ist aber immer empfehlenswert. In diesem Beispiel (Bild rechts) bleibt nach der Filterung genau ein offensichtlicher Fehlwert übrig. Dieser kann vernachlässigt werden, und der Doppler-Vortex wird bestätigt. Der Wirbel rotiert antizyklonal (also im Uhrzeigersinn), genauso wie es sich für einen Linksläufer gehört. Die Rotation ist in den Radarbildern mehrerer benachbarter Elevationen über einen Höhenbereich von 2.5 – 5 km über Meer nachweisbar. Allerdings ist die Wirbelstärke nicht besonders berauschend.

Die Doppler-Geschwindigkeit auf 2.6 km Höhe (Elevation 2.5 Grad), gemessen mit dem Feldberg Radar um 19:00 Uhr. Das Bild links ist ungefiltert, im Bild rechts wurde auf die Daten ein 3×3 Punkte Medianfilter angewendet. Grüne Farben bedeuten Bewegung aufs Radar zu, die braun-roten Farben weisen auf Bewegung vom Radar weg hin. Datenquelle: DWD Wetterradar Feldberg

In den folgenden Figur wird die Radarreflektivität auf 2.6 km (Elevation 2.5 Grad) und auf 5 km (Elevation 8 Grad) angezeigt. Im Bild links ist eine für Superzellen charakteristische Struktur erkennbar: ein Haken („Hook“), eine (durch den Haken begrenzte) Schwachechozone („weak echo region“ oder „WER“) und hohe Gradienten der Radarreflektivität auf der Nordseite der Zelle. Die Grenze der Schwachechozone ist mit einer schwarzen Linie markiert, diese Linie wurde in das auf 5 km Höhe aufgenommene Radarbild übertragen (rechts). In diesem Bild begrenzt diese Linie eine Zone mit markant höheren Radarreflektivitätswerten, man spricht deshalb von einem Überhang. Die „weak echo region“ markiert die Lage des Aufwindes: in diesem werden die Wolkenpartikel in die Höhe transportiert, bevor sie an Volumen zulegen und, im Überhang und seitlich angrenzend, allenfalls Hagelkorngrösse erreichen. In der Grafik links ist auch die Position des Dopplerwirbels eingetragen, wie er in der vorangehenden Figur identifiert worden ist. Man kann hieraus schliessen, dass der Aufwind rotiert, und zwar, wie schon beschrieben, antizyklonal, d.h. im Uhrzeigersinn. Mit der Rotation werden die Niederschlagsteilchen um das Aufwindzentrum herumgeführt, und es kommt zur Bildung des charakteristischen „Hook“-Echos.

Die Radarreflektivität auf 2.6 km Höhe (links) und auf 5 km Höhe (rechts). Typische Merkmale werden in weisser Schrift markiert, der/die geneigte Leser/in möge verzeihen, dass wir z.T. auf die im englischen Sprachgebrauch üblichen Begriffe zurückgreifen. Datenquelle: DWD-Wetterradar Feldberg.

Der Linksläufer kann also zum untersuchten Zeitpunkt (21 Uhr) als Superzelle klassiert werden. Die beschriebene Struktur kann in vier aufeinanderfolgenden Messzyklen (20:55 – 21:10) Uhr mehr oder weniger deutlich nachgewiesen werden. Vorher und nachher sind die Merkmale einer Superzelle weniger klar. Allerdings müssten die Messdaten durchgehend analysiert werden, um die effektive Dauer dieser superzellulären Phase zu bestimmen. Ab 21:15 Uhr schwächelte die Zelle zunehmend und verschwand eine halbe Stunde später aus dem Radarbild.

Die in den Radarbildern sichtbaren und beschriebenen Merkmale sind ein Spiegelbild der weitaus häufigeren rechtsziehenden Superzellen. Allerdings ist die Zelle markant kleiner als ihre grossen, ausgewachsenen Gegenspieler, welche typischerweise lange Schadenspuren durch Hagel, Sturm und schlimmstenfalls Tornados generieren. Man könnte in diesem Fall von einer Superbabyzelle oder, offizieller, von einer Mini-Superzelle sprechen. Der Vollständigkeit halber wird in der folgenden Figur ein stark vereinfachter Hodograf wiedergegeben (beruhend auf der Payerne-Sondierung vom 19.8.2020 00z), mit welchem die SREH 0-3 km abgeschätzt werden kann (vgl. hierzu unseren Vorgängerblog „Ausbruch von Superzellen“). Der gefundene Wert (37 m2/s2) ist wenig berauschend und liegt deutlich unter der Schwelle (100-150 m2/s2), ab welcher gemeinhin Superzellen erwartet werden. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass die Windverhältnisse nur lokal die Entstehung der beobachteten Superzellenstruktur begünstigt haben. Dafür spricht auch die möglicherweise nur kurze Dauer der superzellulären Phase.

Vereinfachter Hodograph, beruhend auf der Payerne-Sondierung vom 19.8.2020 00Z und der berechneten Zugrichtung und Geschwindigkeit des Linksläufers.

Falls jedoch der Aufwind des Linksläufers vor 20:55 Uhr (noch) nicht rotierte, dann wäre die Zelle erst 1.5 Stunden nach ihrer Entstehung in eine Superzelle mutiert. Die Zellenbewegung blieb über die gesamte Lebensdauer etwa die gleiche. Es ist also möglich, dass der Aufwind eines Linksläufers manchmal rotiert, manchmal nicht, ohne dass dies aus der Zugbewegung direkt erkennbar wäre. Ein schlecht aufgelöstes Kompositbild hilft da wenig, erst mit Hilfe eines vollständigen Volumendatensatzes und mit qualitativ guten Doppler-Messungen gelingt es, den Status eines Linksläufers (Superzelle oder nicht) zuverlässig zu bestimmen. Diese Erkenntnis ist keineswegs neu und gilt auch für Rechtsläufer.

 

Gewittervorschau 13.-19.08.2020

Starkes Gewitter nördlich von Bern mit nassem Downburst (97 km/h an der Messstation Zollikofen), am 12.08.2020

Eine Frage drängt sich Mitte August immer auf: Verabschiedet sich der Hochsommer mit Getöse und endgültig, oder schleicht er sich heimlich davon, um dann vielleicht doch durch die Hintertür noch mal vorbeizuschauen, wie in den letzten Jahren öfters vorgekommen? Derzeit macht es den Eindruck, als würde er des Hauses verwiesen, sich aber mit diesem Verdikt nicht zufrieden geben und unter Protest und Krawall noch mal Einlass erzwingen zu wollen. Kurzum: Bis in die nächste Woche und vielleicht noch darüber hinaus bleibt es in der Wetterküche spannend. Die Zutaten für ordentliche Gewitterlagen sind jedenfalls noch lange nicht Mangelware und versprechen noch einige Überraschungen – ob man solche mag oder nicht, sei jedem selbst überlassen.

Die Ausgangslage zeigt die seit Tagen flache Druckverteilung über fast ganz Europa. Was gegenüber den letzten Tagen ändert, ist die Abschwächung und gleichzeitige Verdrängung des Höhenrückens, der noch häufig als Deckel für die Gewitterentwicklung im Flachland gewirkt hat, nach Osten:

Das vor der Biskaya liegende Tief verstärkt sich in den kommenden Tagen nach und nach, womit ein schleichender Umbau der Grosswetterlage stattfindet und wahrscheinlich in eine längere GWL „Südwest zyklonal“ mündet. So lange sich dieses Tief nicht weiter nach Osten bewegt, verbleiben wir im wechselhaften Bereich zwischen sehr warmer Subtropikluft aus südlichen Richtungen und zeitweise westlich und südlich um das Tief herumgeführter, erwärmter Polarluft. Wie so oft bei solchen Lagen können geringe Verschiebungen der Druckzentren darüber entscheiden, ob wir mehr Warm- und Kaltluft abbekommen, entsprechend ist die nachfolgende Prognose eine Momentaufnahme und nicht in Stein gemeisselt – tageweise Verschiebungen der Witterungsabläufe sind einzuplanen.

Für heute Donnerstag kann man noch mal mit einem ähnlichen Verlauf wie am Vortag rechnen: Zwar ist es nicht mehr ganz so heiss, aber nach wie vor schwül. Durch die Abschwächung des Höhenrückens wird die Sonneneinstrahlung durch mehr Wolkenfelder und somit die Erwärmung der bodennahen Luftschicht etwas gebremst, was aber durch etwas kältere Höhenluft wettgemacht wird: Die Labilität ist nach wie vor sehr hoch. Ab Mittag geht es somit wieder los mit ersten, vorerst lokalen Schauern und Gewittern im Bergland. Für den Abend wird aus Westen mehr Aktivität modelliert, wenn auch zeitlich und von der Intensität alles Andere als einheitlich. Ein ähnlicher Ablauf wie gestern ist einzuplanen, es besteht also wieder das Potenzial sehr plötzlich entwickelnder Starkgewitterzellen, die sich je nach sich zufällig ergebenden Bodenkonvergenzen mehr oder weniger gut organisieren können. Hauptgefahr bleibt dabei der Starkregen und lokal auftretende „wet downbursts“, also durch starke Niederschlagsabkühlung sich am Boden vom Gewitter weg ausbreitende Sturmböen. Dichter Hagel ist als Begleiterscheinung möglich, dürfte aber von der Korngrösse her eher im kleineren Bereich bleiben.

In der zweiten Nachthälfte bzw. am Freitagmorgen zieht eine schwache Kaltfront durch und verdrängt die schwül-warme Luft aus dem Mittelland:

Das geht möglicherweise mit etwas flächigerem Regen mit eingelagerten Gewittern einher – dass es dabei aber überall nass wird, ist nicht garantiert. Die rückseitige Labilität sorgt tagsüber noch für einige Schauer, und wo sich inneralpin Warmluftreste halten konnten, ist auch noch mal mit dem einen oder anderen Gewitter zu rechnen. Zum Abend sollte es aber weitgehend trocken werden.

Zum Wochenende wölbt sich der Höhenrücken genau über der Schweiz noch mal etwas auf und sorgt für eine ruhigere Phase:

Die Labilität wäre zwar ausreichend für Gewitter, am Samstag sollte der Deckel aber weitgehend halten. Ein paar Entwicklungen in den Bergen sind zwar möglich, sollten sich aber lokal begrenzen und eher von kurzer Dauer sein. Am Sonntag wird es dann bereits wieder heiss genug, um den Deckel etwas häufiger zu durchbrechen. Vor allem zum Abend hin steigt das Gewitterpotenzial an, das muss man aber zeitnah genauer betrachten.

Am Montag steht die nächste Kaltfront an:

Hier wird die Gewitteraktivität vor allem vom tageszeitlichen Eintreffen abhängen, das auf diese Zeitspanne noch nicht festgelegt werden kann. Kommt die Front in den frühen Morgenstunden, wird es etwa ähnlich harmlos ablaufen wie am Freitag (die beteiligten Luftmassen vor und nach der Front sind dieselben). Sollte es aber eine Verzögerung in den Tag geben, sodass die Sonne vor der Front noch lange genug aufheizen kann, ist Unwetterpotenzial gegeben.

Für Dienstag und Mittwoch wird es unsicher. Das amerikanische Modell lässt das Höhentief genau über die Schweiz ziehen, womit schon fast Aprilwettercharakter auftritt: Kühl, wechselhaft und schaueranfällig, wobei die Höhenkaltluft Labilität für Gewitter liefern könnte. Die anderen Modelle lassen das Tief weiter nördlich ziehen, womit der Alpenraum in höherem Geopotenzial und wärmerer Höhenluft verbleiben würde. Das Resultat wäre spätsommerlich temperiertes Wetter mit wahrscheinlich nur lokalen Schauern und Gewittern. Diese Unsicherheit zeigt sich auch im GFS-Ensemble, wo der Hauptlauf die kälteren Lösungen vertritt – auch was die nachfolgende Erholung betrifft: trocken-kühl oder trocken-warm bis sogar wieder heiss?

Man sieht: Die Frage, ob sich der Hochsommer nächste Woche geschlagen gibt, lässt sich noch nicht beantworten.

28.7.2020: Ausbruch von Superzellen?

Blick von Sellenbüren in Richtung SW auf eine der zahlreichen Superzellen des Tages

Nein, Superzellen haben nichts mit Superspreader zu tun, und noch viel weniger mit Superviren. Superzellen sind eine spezielle Klasse von Gewittern, nämlich solche, bei welchen der Aufwind rotiert. Dieser rotierende Aufwind wird auch als „Mesozyklone“ (oder „Mesoantizyklone“) bezeichnet, je nach dem Drehsinn der Rotation (im Gegenuhrzeigersinn bei den Mesozyklonen). Superzellengewitter sind gefürchtet, weil sie gerne von Hagel, Sturmböen, Sturzfluten und Tornados begleitet sind. In der Schweiz sind Superzellen in den letzten Jahren, mindestens nördlich der Alpen, seltener geworden. Das hängt mit der Stärke des Höhenjets im mäandrierenden Westwindgürtel der mittleren Breiten zusammen. Wird der Höhenjet schwächer (als Folge der Klimaerwärmung), dann werden die Scherzonen seltener, welche für den Aufbau von Rotation in der Aufwindzone von Gewitterzellen nötig sind.

Ganz im Gegensatz zum beschriebenen Trend der letzten Jahre war der Hochsommer 2020 bislang durch eine länger dauernde und nur schwach mäandrierende Westwindströmung geprägt. In dieser Strömung eingebettet sind in den letzten Wochen eine Serie von Kurzwellentrögen schleifend vorbeigezogen. Der Höhenjet des letzten Troges hat den Alpenraum am 28.7.2020 jedoch voll erfasst. Vom Boden bis in 3 km Höhe nahm die Windstärke um über 60 km/h zu. Dadurch entstand eine ideale Scherung für den Aufbau von rotierenden Aufwinden und von Superzellen. Ab dem Mittag bis weit in die Nacht bildeten sich vor allem in der Ostschweiz und den Alpen entlang eine Vielzahl von Gewitterzellen, welche rasch nordostwärts und ostwärts weiterzogen und vielerorts für heftige Hagelschläge sorgten. Der von Christian Matthys im Sturmforum bereitgestellte Radarloop vom 28.7.2020 (vielen Dank!) gibt einen guten Überblick über das Geschehen während der 14-stündigen Gewitterperiode.

Aber waren die zahlreichen Gewitterzellen dieses Tages auch Superzellen?
Über diese Frage wurde im Sturmforum bereits ausgiebig diskutiert. Vortex-Signaturen von Dopplerwindmessungen in mittleren Höhen (typischerweise 5 km) könnten die Existenz von Mesozyklonen belegen. Solche Daten sind leider nicht verfügbar, der Feldberg-Radar als mögliche Datenquelle ist zu weit weg. Aus diesem Grund behelfen wir uns mit einer Analyse des Umgebungswindes. Für diese stark vereinfachte Betrachtung nutzen wir die Erfahrung, dass die Geschwindigkeit von Gewitterzellen etwa der Windgeschwindigkeit in 3 km Höhe (700 hPa) entspricht. In niedrigen Höhen ist die Windstärke in der Regel geringer, also kriegt die Gewitterzelle ihr „Futter“ (= energiereiche Bodenluft) aus einer Schicht vom Boden bis ca. 3 km Höhe. Rotiert die einfliessende bodennahe Luftschicht (der Fachmann spricht von „streamwise Vorticity“), dann wird die Rotationsachse von der Horizontalen in die Vertikale gekippt, und die einfliessende Luft wird als Mesozyklone (= rotierender Aufwind) zum Zentrum der Gewitterzelle.

Werte von über 150 m2s-2 der sog. „storm-relative“ Helicity (auch „SREH“ genannt) sind ein guter Indikator für Mesozyklonen. Diese Grösse kann aus dem Vertikalprofil (0 – 3 km Höhe) des Horizontalwindes und dem Bewegungsvektor der Gewitterzellen ermittelt werden. Das entscheidende Hilfsmittel hierzu ist der Hodograph: eine Darstellung, in welcher die Vektorspitzen der Windvektoren und des Bewegungsvektors der Gewitterzelle mit einer Linie verbunden werden. Die dabei umschlossene Fläche, multipliziert mit dem Faktor 2, ergibt dann die SREH.

Wir haben die Zugrichtung und die Zuggeschwindigkeit von neun besonders langlebigen (> 60 min) Gewitterzellen ausgewertet. Die Zugbahnen sind in der folgenden Abbildung eingetragen. Es zeigt sich ein für solche Wetterlagen typisches bimodales Muster der Bewegungsrichtung. Dementsprechend können die neun Zellen in 5 „Rechtsläufer“ („right mover“) und 4 „Linksläufer“ („left mover“) aufgeteilt werden.

Die Zugbanen von 9 besonders langlebigen Gewitterzellen, 5 „right mover“ (rot) und 4 „left mover“ (gelb).

Und dies sind die Mittelwerte der Bewegungsvektoren (Azimuth 0 Grad bedeutet Bewegung in nördliche Richtung, 90 Grad in östliche Richtung usf.):

Right mover (Mittelwerte von 5 Zellen)
Azimuth/Geschwindigkeit:  95 Grad/56 km/h

Left mover (Mittelwerte von 4 Zellen)
Azimuth/Geschwindigkeit:  63 Grad/64 km/h

Zur Charakterisierung des Umgebungswindes in der freien Atmosphäre verwenden wir die Radiosondierungen von Payerne, wohl wissend, dass eine detaillierte Analyse der lokalen Windverhältnisse den Rahmen dieses Blogbeitrages bei weitem sprengen würde. Der Einfachheit halber werten wir nur die Höhenlevel Boden, 700 hPa und 500 hPa aus. Für eine umfassende grafische Darstellung der Sondierungsdaten (inkl. Hodographen) verweisen wir auf die Auswertungen von Bernhard Oker.

Die folgenden Diagramme zeigen die Wind-Hodographen (blaue Linie) der Payerne-Sondierungen vom Mittag des 28.7. und der kommenden Nacht. Die mittleren Bewegungsvektoren der Gewitterzellen sind mit blauen Kreuzen markiert. Die Berechnung der SREH führt zu einem klaren Resultat:
nur die Rechtsläufer haben „superzellenfördernde“ Werte der SREH von über 150 m2s-2.

Entscheidend für die Umsetzung einer hohen Windscherung in eine hohe SREH ist eine erhebliche Abweichung der Bewegungsrichtung einer Gewitterzelle von der Windrichtung in 700 hPa.

Dies ist eine einfache Regel, welche rasch und unkompliziert geprüft werden kann, sobald die Bewegungsrichtung einer Gewitterzelle klar erkennbar ist. Zusammengefasst bedeutet dies, dass am 28.7.2020 nur die Rechtsläufer mit guter Gewissheit als Superzellen angesehen werden können.

Wind-Hodograph des Payerne-Sondierungen vom 28.7.2020 12z und 29.7.2020 00z. Zusätzlich sind die gemittelten Bewegungsvektoren der right-mover und left-mover eingetragen. Aus den farbigen Flächen wurde die SREH berechnet. Die SREH der right-mover entspricht selbstversändlich der roten + der orangenen Fläche.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bei den Linksläufern ist zumindest ein Fragezeichen zu setzen. Beim Betrachten der Zugbahnen der 9 untersuchten Gewitterzellen (siehe oben) fällt auf, dass die Linksläufer bis auf eine Ausnahme entlang der Voralpen entstanden sind. Es wäre denkbar, dass die Payerne-Sondierung die Windverhältnisse in den Voralpen nicht realistisch wiedergibt, dass, zum Beispiel, der Wind in 700 hPa mehr aus nördlicher Richtung in die Zellen einfliesst und die SREH höher ist als berechnet. Die Windmessung auf dem Titlis (3100müM) spricht eher dagegen. Bis ca. 16 Uhr stimmt die Windrichtung gut mit der Payerne-Sondierung überein. Danach dreht zwar der Wind stufenweise etwas mehr in westliche Richtung, aber der Titlis war nach 16 Uhr voll im Einfluss durchziehender Gewitterzellen. Die Winddrehung könnte sich outflowbedingt geändert haben, zudem kann das Gelände die Windmessung beeinflussen.

In einer Studie  von Houze et al. (1993) wurden die Linksläufer im Alpenraum im Detail untersucht. Dabei wurde die folgende Schlussfolgerung gezogen:

„However, the left-moving members of the splits are not similar to … . They are not ordinary cells, nor are they classic supercells, but rather of some intermediary structure.“

Ob Superzelle oder nicht – Fact ist, dass die Linksläufer am 28.7.2020 den Rechtsläufern betr. Stärke und Lebensdauer ebenbürtig waren. Auch grosser Hagel konnte den Linksläufern zugeordnet werden. Linksläufer können also genauso gefährlich sein wie die Rechtsläufer, welche hierzulande in der Regel die grössten Alphatiere im Haifischbecken der Gewitterzellen hervorbringen. Die Frage ob Superzelle oder nicht ist, im Hinblick auf Hagel, Starkniederschlag oder Sturmböen, eher von untergeordneter Bedeutung. Dies gilt aber nicht im Hinblick auf das Tornadorisiko. Hohe Werte der SREH weisen auf ein erhebliches Tornadorisiko hin, und dieses Risiko scheint den Rechtsläufern vorbehalten. In der Tat können nordhemisphärenweit nur sehr wenige Tornadoereignisse den Linksläufern zugeordnet werden.

Zurück zur Titel: dieser sollte korrekterweise in „Ausbruch von rechtsziehenden Superzellen“ abgeändert werden.