Rekord-Temperatursturz in den Alpen

Kam noch am 24. Oktober ins Schwitzen: Langgletscher im Lötschental

Kam noch am 24. Oktober ins Schwitzen: Langgletscher im Lötschental

Schneefall im Oktober bis in die Niederungen kommt alle paar Jahre vor, letztmals in den Jahren 2008 und 2003. Beim aktuellen Ereignis ist allerdings der dafür verantwortliche Luftmassenwechsel rekordverdächtig, denn noch vor Wochenfrist wurden in höheren Lagen und in Föhngebieten sommerliche Temperaturen gemessen.

Die meisten Einwohner der Schweiz haben es wahrscheinlich gar nicht so extrem empfunden, denn in den Niederungen der Alpennordseite dominierte bereits während der gesamten letzten Woche Nebel oder Hochnebel mit Tageshöchstwerten um 10 Grad, hier beträgt der Temperaturrückgang innert Wochenfrist somit etwa 8 bis 12 Grad. Das ist zwar durchaus spürbar, aber nichts Aussergewöhnliches. Um den wahren Temperatursturz zu messen, muss man sich in der freien Atmosphäre umsehen, wo der Unterschied zwischen der subtropischen Luftmasse vom letzten Wochenende und der aktuellen Luftmasse polaren Ursprungs am deutlichsten messbar war. Meteorologische Messstationen auf den Bergen oberhalb von etwa 1500 m sind einerseits unbeeinflusst von Kaltluftseen, welche sich in den Niederungen im Winterhalbjahr sammeln und häufig eine Nebelschicht ausbilden. Andererseits sind Bergstationen auch weitgehend frei von starken Schwankungen zwischen Tag und Nacht, wie sie vor allem in engen Alpentälern sehr ausgeprägt auftreten können.

Sehr deutlich ist der Temperaturunterschied in den Föhntälern ausgefallen: Als extremes Beispiel sei das liechtensteinische Vaduz genannt, wo am 19. Oktober 2012 noch 29.0 Grad gemessen wurden, am 28. Oktober sind es gerade noch knapp 3 Grad. Diese Föhnstriche gelten als Ausnahme der Niederungen, aber sie sind ein Hinweis darauf, dass in höheren Lagen (wo die Föhnluft ursprünglich her kam) ähnliche Verhältnisse herrschen mussten. Ich habe die Bergstationen aus der Schweiz mit den extremsten Temperaturrückgängen innerhalb der letzten acht Tage herausgesucht (Zahlenfolge: 1. Temperaturdifferenz; 2. Maximum (mit Wochentag); 3. Minimum in der Nacht von Samstag auf Sonntag 27./28.10.2012):

Moléson (1972 m) 31,2 / 19,9 (So) / -11,3
Pilatus (2106 m) 29,6 / 17,6 (So) / -12,0
La Dôle (1676 m) 28,7 / 19,4 (So) / -9,3
Chasseral (1599 m) 28,5 / 19,4 (So) / -9,1
Säntis (2490 m) 28,1 / 13,4 (So) / -14,7
Weissfluhjoch (2690 m) 27,4 / 12,6 (Mo) / -14,8
Napf (1408 m) 26,2 / 18,5 (So) / -7,7

Interessant wären hier auch die Zahlen vom Jungfraujoch gewesen, leider fiel ausgerechnet in der Nacht auf Sonntag die Temperaturmessung aus. Vom Mittwoch, 24. Oktober bis zum Ausfall fiel hier die Temperatur von +5.1 auf -21.2 Grad. Man darf davon ausgehen, dass es bis Sonntag früh noch etwas kälter wurde.

Auffallend ist der Umstand, dass der extremste Temperatursturz in einer Höhe von rund 2000 m stattgefunden hat, weiter oben wie auch weiter unten waren die Extremwerte etwas geringer. Aus den Südalpen befinden sich keine Stationen unter den Spitzenreitern, weil hier die Kaltluft aus Norden weniger gut vordringen konnte – das Tief über Norditalien steuert hier in der Höhe nach wie vor etwas mildere Luft herbei.

Man muss in den Klimatabellen sehr weit zurück blättern, um einen ähnlichen Temperatursturz in weniger als Wochenfrist zu finden: Ähnlich extrem war der Kaltlufteinbruch von Ende Januar bis Anfang Februar 1956 mit durchschnittlich 25 Grad Temperaturdifferenz, der sich allerdings nicht nur in höheren Lagen, sondern beispielsweise auch in Zürich und Basel bemerkbar machte.

Wetterradar, Tröpfchengrösse und orographischer Niederschlag

Aufnahme von fallenden Regentropfen, mit eingeblendetem Massstab. Verschlusszeit: 1/200s. Foto: Willi Schmid

Die starken Niederschläge gestern und vorgestern haben vielerorts zu lokal begrenzten Überflutungen geführt. Bei Ereignissen dieser Art stellt sich immer wieder die Frage nach der Genauigkeit der Messungen des Wetterradars. Die Vergleiche der Radarmessungen mit den uns zur Verfügung stehenden Bodenstationen stehen noch aus. Interessant ist aber die Feststellung, dass der Regenmesser in Sellenbüren während der Dauer des Ereignisses (2 Tage) praktisch das Doppelte, zeitweise sogar das Dreifache der Regenmenge gemessen hat, welche der Radar Albis über dem gleichen Standort „gesehen“ hat.

Die beiden Grafiken am Schluss dieses Artikels zeigen klar den Unterschied von einem Faktor 2 am 9.10., und sogar von einem Faktor 2.5 am 10.10.2012. Die rote Kurve ist jeweils die Messung des Regenmessers, und die grüne Kurve diejenige des Radars. Die blaue Kurve entspricht der grünen Kurve, gestreckt um einen Faktor 2. Wir vermuten, dass am Standort des Regenmessers, am Fuss des Uetlibergs, eine starke orographische Komponente die Niederschlagsintensität vergrössert hat. Der Hügelzug der Albis-Kette hat die darüberfliessende Luftmasse zum Aufsteigen gezwungen. Dadurch bildete sich eine zähe dicke Nebelschicht, welche als Quelle für zusätzliches Regenwasser wirken konnte. Im Vordergrund steht dabei der Seeder-Feeder Effekt, welcher von Bergeron in den 60er Jahren erstmals beschrieben wurde.

Auch wenn orographiche Prozesse wirksam waren, erklärt dies die beobachtete Diskrepanz zwischen Regenmesser und Radar noch nicht. Wir kennen die genaue Ursache nicht, vermuten aber folgende mögliche Erklärungen:
– Die Verstärkung des Niederschlags in der tiefen Nebelschicht wird vom Radar nicht gesehen. In Bodennähe stören Bodensignale die Radarmessung zu stark und werden deshalb weggefiltert.
– Der Niederschlag ist besonders kleintropfig, da auch Koaleszenzprozesse wirksam sein könnten, durch welche kleine Regentröpfchen entstehen („Nieselregen“). Kleine Tröpfchen werden vom Radar schlecht gesehen, können aber substanziell zur gesamten Regenmenge beitragen.
– Die Korrekturalgorithmen der MeteoSchweiz sind nicht optimal auf diese Art von orographischen Niederschlägen eingestellt.

Um die zweite Erklärung (kleintropfiger Regen) zu erhärten oder auszuschliessen, wäre eine Angabe über die mittlere Tröpfchengrösse resp. die mittlere Fallgeschwindigkeit der Tröpfchen von Interesse. In ruhender Luft, z.B. knapp über Boden, ist die Relation zwischen Tropfengrösse und Fallgeschwindigkeit gut bekannt. Kleine Tröpfchen fallen langsamer als grosse. Es gibt zwar jede Menge von sog. „Distrometern“ (mechanische und optische Geräte), deren Zweck es ist, die Grösse von Regentröpfchen indirekt aus der Fallgeschwindigkeit zu messen. Solche Messungen werden meines Wissens bei Wetterdiensten kaum gemacht und sind Forschungsaktivitäten vorbehalten. Als „Notlösung“ haben wir festgestellt, dass jede bessere Kamera mit einem anständigen Zoomobjektiv in der Lage ist, fallende Regentröpfchen zu fotographieren und dabei die Fallgeschwindigkeit zu extrahieren. Wählt man eine grosse Zoomstufe und eine grosse Blende, erreicht man eine geringe Schärfentiefe und kann so die Distanz der scharf abgebildeten Tröpfchen zur Kamera +- konstant halten. Eine Aufnahme zu Beginn dieses Blogtextes zeigt fallende Tröpfchen bei einer Aufnahmezeit von 1/200 Sekunden, mit eingeblendetem Massstab. Die Umrechnung der Spurlänge in Fallgeschwindikeit ist eine einfache Sache, setzt aber voraus, dass die Verschlusszeit der Kamera exakt ist.

Wir haben so, bei einer Regenrate von ca. 3.6 mm/h, die Spurlängen von 80 Tröpfchen ausgewertet und dabei eine mittlere Fallgeschwindigkeit von 3.6 m/s festgestellt. Die Schwankungsbreite ist gross und variiert zwischen 0.6 und 7.4 m/s. Was diese Werte bedeuten, ist eine offene Frage, darauf soll in einem späteren Beitrag eingegangen werden. Wir werden das Experiment auf jeden Fall wiederholen, und so mit der Zeit statistisch fundierte Erkenntnisse gewinnen können. Sollte sich ein Leser angesprochen fühlen, das Experiment zu versuchen, nur zu. Aufgrund unserer ersten Erfahrung ist dies nicht allzu schwierig.

Regenakkumulation am 9.10.2012, Details siehe Text. Quelle: meteoradar

Regenakkumulation am 10.10.2012. Details siehe Text. Quelle: meteoradar